Das Paradoxon der Thrombose
Matthias Mann, Direktor des MPIB, und Tobias Petzold, Kardiologe des LMU-Klinikums, haben gemeinsam mit ihren Teams einen Mechanismus entschlüsselt, der die Bildung von Blutgerinnseln verhindern könnte.
Bären im Winterschlaf und auch querschnittsgelähmte Menschen verbringen Monate, oder gar Jahre, nahezu bewegungslos liegend. Bei gesunden Menschen geht Bettlägerigkeit jedoch auch immer mit dem Risiko einer Thrombose einher. Paradox, aber dennoch alltäglich. Diesem Widerspruch ging nun ein internationales Forschungsteam um Matthias Mann, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie (MPIB), und Dr. med. Tobias Petzold des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München nach. Dabei fanden sie einen Mechanismus, der in Braunbären, wie auch Querschnittsgelähmten vorkommt und der die Entstehung von Blutgerinnseln verhindert. Diese Entdeckung könnte neue Therapiemöglichkeiten eröffnen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
Viele Menschen kennen es aus der eigenen Familie: Wenn sich die Großmutter die Hüfte gebrochen hat und wochenlang bettlägerig ist, dann wächst auch das Risiko eines Blutgerinnsels. Ein solches Gerinnsel entsteht in einer Vene, wandert durch den Kreislauf und kann im schlimmsten Fall ein Blutgefäß der Lunge verstopfen. Immobilität ist einer der größten Risikofaktoren für eine solche, venöse Thromboembolie mit lebensgefährlichen Folgen. Warum aber können Braunbären im Winter monatelang nahezu regungslos schlafen, ohne in die Gefahr dieser Erkrankung zu kommen? Und warum haben querschnittsgelähmte Patient*innen nach der Akutphase der ursächlichen Verletzung ebenfalls kein erhöhtes Thromboserisiko?
Für die Herz- und Kreislaufspezialisten des LMU-Klinikums um Dr. Tobias Petzold begann dieses Forschungsprojekt mit zwei Reisen nach Mittelschweden - eine im Sommer, eine im Winter. Dort wird eine Braunbärenpopulation seit mehr als zehn Jahren wissenschaftlich untersucht, unter anderem durch den dänischen Kardiologen Prof. Dr. Ole Fröbert des Universitätskrankenhauses im schwedischen Örebro, der seinen deutschen Kolleg*innen auch das Kooperationsprojekt vorschlug. Die Braunbären tragen GPS-Sender, die ihren Aufenthaltsort markieren. Sie wurden für die Blutentnahmen sediert und anschließend sofort wieder in die Wildnis entlassen. In einem mobilen Labor analysierten Petzold und seine Kolleg*innen die Proben binnen drei bis vier Stunden. So wollten sie der Frage nachgehen, ob sich das Gerinnungssystem der Braunbären im Winterschlaf von dem in der Aktivität des Sommers unterscheidet. „Doch da haben wir keinen relevanten Unterschied gefunden“, sagt Manuela Thienel, Ko-Erstautorin der Studie.
Einen Teil der Blutproben nahmen die Forschenden mit nach München, um in ihren Laboren die Blutplättchen genauer zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass im winterschlafenden Braunbärenkörper „die Interaktion zwischen den Blutplättchen und Entzündungszellen des Immunsystems gebremst wird“, wie Petzold sagt, „das erklärt das Ausbleiben der venösen Thrombose“. Genau die gleichen Mechanismen wiesen die Wissenschaftler*innen auch bei querschnittsgelähmten Patient*innen und bei Proband*innen nach, die an einer Studie der Deutschen (DLR) und Amerikanischen Raumfahrtbehörden (NASA) teilnahmen und hierfür drei Wochen lang Bettruhe einhielten.
Um den molekularen Mechanismus hinter diesem schützenden Prozess aufzudecken, zogen die Mediziner*innen die Expertisen von Prof. Dr. Matthias Mann und Dr. Johannes Müller-Reif, des Max-Planck-Institutes für Biochemie in Martinsried heran. Die von ihnen verwendete Methode der Massenspektroskopie-basierten Proteomik ist auf die Beantwortung von Fragestellungen spezialisiert, bei denen nach veränderten Proteinen gesucht wird ohne vorher zu wissen um welche es sich dabei handelt.
Matthias Mann, Direktor des MPIB, erklärt: „Wir haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass unsere Methode auf alle Organismen und Modelle anwendbar ist, sofern DNA-Sequenzierungsdaten vorhanden sind. Speziell für den Braunbären gibt es kaum andere Möglichkeiten molekulare Prozesse zu untersuchen, da meist organismusspezifische Antikörper benötigt werden. Durch die Identifizierung und Quantifizierung von fast 2.700 Proteinen in den Blutplättchen konnten wir die molekularen Geheimnisse hinter ihrer einzigartigen Fähigkeit, Thrombosen während des Winterschlafs zu vermeiden, aufdecken."
Entscheidend dabei ist, dass im Winterschlaf 71 Proteine hoch- und 80 herunterreguliert werden. Johannes Müller-Reif erklärt: „Das Blutplättchen-Protein mit dem größten Unterschied zwischen überwinternden und aktiven Bären war das sogenannte Hitzeschockprotein 47, kurz HSP47, das in den überwinternden Bären um das 55-fache herunterreguliert war.“ Insbesondere konnten die Forscher*innen zeigen, dass die Herabregulation des HSP47 unter Langzeit Immobilisation in verschiedenen Säugetierarten, wie Menschen, Braunbären und Schweinen, vorkommt und somit ein evolutionär konservierter, artübergreifender Mechanismus der Thromboseprävention ist.
Durch einen geringen HSP47 Proteinlevel reduziert sich auch die Interaktion der Blutplättchen und Entzündungszellen. „Tatsächlich“, so Tobias Petzold, „ist HSP47 in der Lage, die Entzündungszellen zu aktivieren“. Im biomedizinischen Umkehrschluss bedeutet das, dass man HSP47 mit einem passenden Molekül bei immobilisierten Akutpatienten blockieren und dadurch womöglich die Gefahr einer venösen Thrombose verhindern könnte. Zwar gibt es für Laborexperimente bereits kleine Moleküle, die HSP47 ausschalten, doch für einen möglichen Einsatz am Menschen eignen sie sich nicht. „Deshalb“, so Petzold weiter, „wollen wir jetzt selbst nach geeigneten Substanzen suchen“.
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