Aneuploidie - Wenn Zellen ihr Gleichgewicht verlieren
Forschungsbericht (importiert) 2013 - Max-Planck-Institut für Biochemie
Die Bedeutung des Gleichgewichts für die Gesundheit der Zelle
Chromosomen sind die Träger der genetischen Information eines Organismus. Auf ihnen befinden sich die Baupläne für alle Proteine, zelluläre Bausteine, die benötigt werden, um das Überleben und Vervielfältigen der Zelle sicherzustellen. Eukaryotische Zellen, wie die des Menschen, sind meist diploid, das heißt, sie besitzen je zwei Versionen eines jeden Chromosoms - beim Menschen sind es genau 23 Chromosomenpaare. Die Chromosomen werden während der Zellteilung weitergegeben. Dazu werden sie zuerst dupliziert und anschließend zu gleichen Teilen in die "Mutter" und die "Tochter"-Zelle weitergegeben, sodass danach beide Zellen wieder über einen kompletten Chromosomensatz verfügen.
Um das Weiterleben der Zellen zu gewährleisten, ist es besonders wichtig, mögliche Fehler während der Zellteilung zu vermeiden. Mehrere Jahrzehnte der Forschung haben unser Verständnis über diejenigen Prozesse, die die korrekte Aufteilung der Chromosomen in der Zellteilung gewährleisten, maßgeblich verbessert. Die Ergebnisse zeigen, wie Zellen Fehler im Verlauf der Zellteilung erkennen und wie sie diese korrigieren. Dennoch können gelegentlich Fehler auftreten, die dazu führen, dass sich nach der Zellteilung zu viele oder zu wenige Chromosomen in den Zellen befinden (Abb. 1). Zellen mit einer von der Norm abweichenden Anzahl an Chromosomen bezeichnet man als aneuploid.
Aneuploidie ist die Ausnahme von der Regel - solche Anomalitäten treten in einem gesunden Organismus nur selten auf. Man findet sie allerdings gehäuft unter pathologischen Bedingungen. Die meisten Zellen mit abweichender Chromosomenanzahl sterben rasch, insbesondere diejenigen, die Chromosomen verloren haben. Auch Zellen mit zusätzlichen Chromosomen überleben selten und wenn, dann meist nur mit schweren Folgeschäden. Ein menschlicher aneuploider Fötus überlebt die Schwangerschaft meist nicht. Eine seltene Ausnahme davon stellen Patienten dar, die am Down Syndrom leiden und drei Kopien des Chromosoms 21 besitzen. Bei diesen Patienten führt das überschüssige Chromosom zu einer Vielzahl unterschiedlicher Beeinträchtigen, unter anderem zu schweren Entwicklungsstörungen. Alle diese Fakten belegen deutlich, dass Aneuploidie beim Menschen genau wie bei den meisten anderen eukaryotischen Lebensformen gar nicht oder kaum toleriert wird. Jedoch stellt sich die Frage: Warum ist Aneuploidie eigentlich so schädlich?
Wie kann Aneuploidie untersucht werden?
Das Hauptproblem bei der Erforschung von Aneuploidie liegt darin, dass natürlich vorkommende Aneuploidie oft mit chromosomaler Instabilität einhergeht. Hierbei handelt es sich um einen Defekt der Zelle, der dazu führt, dass die Chromosomen während der Zellteilung ungleichmäßig verteilt werden. Entsprechend ändert sich die Chromosomenanzahl in den Zellen bei fast jeder Zellteilung. Um spezifisch die Auswirkungen der Aneuploidie zu untersuchen, manipulieren Forscher gesunde menschliche Zellen, indem sie ein zusätzliches Chromosom einbringen (Abb. 2). Dadurch erhalten sie aneuploide Zellen mit einer genau definierten Anzahl an Chromosomen und können diese direkt mit gesunden Zellen, also Zellen mit einem normalen Chromosomensatz, vergleichen. Es zeigte sich, dass die Anwesenheit eines zusätzlichen Chromosoms beispielsweise ausreicht, um die Zellteilungsrate zu verringern. Daraus schließt man, dass Aneuploidie sowohl unter natürlich vorkommenden Bedingungen als auch in den künstlich erschaffenen Zellen von Nachteil ist.
Die Rolle der Proteine: Zu viele oder zu wenige sind ungesund
Man kann sich leicht vorstellen, dass der Verlust eines Chromosoms zu Problemen für die Zelle führen kann: Obwohl Chromosomen in Paaren vorliegen, sind beide wichtig für das Überleben. Denn die sich auf den Chromosomen befindenden Gene kodieren mRNAs, die wiederum die lebenswichtigen Proteine kodieren. Wenn beide Versionen eines Chromosomenpaars verloren gehen, können grundlegende biochemische Prozesse überhaupt nicht mehr erfolgreich ablaufen und die betroffenen Zellen sterben. Wenn nur eine Version des Chromosoms vorliegt, wird nur die Hälfte der darauf kodierten Proteine produziert. In manchen Fällen reicht dies zwar aus, um die benötigten Funktionen aufrechtzuerhalten, in zahlreichen Fällen führt dies jedoch auch zu Schäden. Zellen mit einem zusätzlichen Chromosom zeigen ebenfalls oft schwere Schäden und sterben häufiger. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass nicht nur zu wenige, sondern auch zu viele Proteine schädlich für die Zelle sind (Abb. 3). Um diese Annahme zu überprüfen, untersuchten Forscher, ob die Menge der mRNAs und der Proteine mit der Anzahl an zusätzlichen Chromosomen ansteigt. Genaue Messmethoden unter Anwendung modernster Technik auf dem Gebiet der mRNA Analyse und der Massenspektrometrie zur Bestimmung der Proteinmengen zeigten, dass tatsächlich die Anwesenheit eines zusätzlichen Chromosoms zum Anstieg der darauf kodierten mRNA und den entsprechenden Proteinen führt. So erwies sich, dass die Proteinproduktion in aneuploiden Zellen tatsächlich aus dem Gleichgewicht gebracht wird [1].
Doch überraschenderweise waren nicht alle Proteine, die durch das zusätzliche Chromosom kodiert wurden, in erhöhter Anzahl in der Zelle vorhanden. Einige Proteine lagen tatsächlich in den gleichen Mengen wie in den gesunden, diploiden Zellen vor. Die Forscher untersuchten daraufhin die Vorgänge, die für den Abbau überschüssiger Proteine in den Zellen verantwortlich sind [2]. Für den Proteinabbau gibt es in der Zelle zwei unterschiedliche Mechanismen. Entweder werden unbrauchbare Proteine für einen Abbau im sogenannten Proteasom mit einem kleinen Molekül namens Ubiquitin markiert oder die Proteine werden zum Lysosom transportiert, einer Art zellulärer Magen, der ebenfalls überschüssige oder beschädigte Proteine und Zellbestandteile entfernt. Dieser Prozess des "Sich-selbst-Essens" der Zelle wird auch als Autophagie bezeichnet. Bemerkenswerterweise ist in aneuploiden Zellen der Pfad in den zellulären Magen besonders aktiv, worauf eine stark erhöhte Lysosomenanzahl hinweist. Er erfordert das Protein p62, um den Abbau bestimmer Proteine im Lysosom zu ermöglichen (Abb. 4). Zuviel Protein zu produzieren, um es nachfolgend gleich wieder abzubauen, ist energetisch betrachtet nicht sinnvoll - es erfordert zusätzliche Energie, die die Zelle opfern muss. Dieser erhöhte Energieaufwand könnte zu den schädlichen Auswirkungen der Aneuploidie auf menschliche Zellen beitragen.
Aneuploidie tritt besonders häufig in Krebszellen auf, bemerkenswerterweise besteht der Großteil eines Tumors aus aneuploiden Zellen. Anders als bei Down Syndrom oder den oben genannten künstlich hergestellten aneuploiden Zellen, bei denen nur ein Chromosom zusätzlich vorliegt, beinhalten Krebszellen meist eine ganze Bandbreite an chromosomalen Veränderungen: Chromosomen können mehrfach hinzugekommen oder verlorengegangen sein. Ebenso wurden Chromosomenarme vervielfältigt oder sind fälschlicherweise mit anderen Chromosomen verbunden. Erstaunlicherweise scheint es aber, dass diese Veränderungen die Zellteilungsraten der Krebszellen nicht verringern. Außerdem ist die Autophagie in Krebszellen besonders aktiv und aneuploide Krebszellen reagieren sensibel auf Stoffe, die die Autophagie inhibieren [3]. Ein genaueres Verständnis der Aneuploidie könnte demnach auch zur Entwicklung wirksamer Medikamente gegen Krebs beitragen.
Ausblick
Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Aneuploidie negative Auswirkungen auf Zellen hat, dennoch bleiben die genauen Ursachen dafür weiterhin unklar. Die Verwendung von Zellen mit exakt definierten Änderungen in der Chromosomenanzahl scheint derzeit ein vielversprechender Weg zu sein, um die Konsequenzen der Aneuploidie zu untersuchen. In Zukunft wird die Klärung dreier Fragen für die Forschung besonders wichtig sein: Wie steuern aneuploide Zellen, welche Proteine entfernt werden sollen? Wie wird die Autophagie in diesen Zellen aktiviert? Und zu guter Letzt: Welche adaptiven Veränderungen ermöglichen es Krebszellen, trotz massiver Aneuploidie so schnell zu wachsen?